in'side online 10'96 - Editorial |
Mord
und Totschlag
im Netz?
Schön groß und schön rot waren sie, die
Schlagzeilen. Leichenzerstückelung im Internet",
so hieß es. Und Jetzt reichts!", so
hieß es außerdem. Eine der großen
Presseagenturen hatte die Meldung lanciert, und die
Boulevardzeitungen bereiteten die Sensation entsprechend auf.
Wieder einmal geriet das Internet, oder genauer gesagt das Usenet
mit seinen Newsgroups, in die Schußlinie. In einer
Newsgroup, die Geschmacklosigkeiten" zum Thema hat,
waren Video-Grabs (also Standbilder aus einem Videofilm)
aufgetaucht, die zeigten, wie ein perverses
Mörderpärchen ihr soeben erschossenes Opfer zerteilte.
Dabei schockten weniger die Bilder für sich (die schlecht
und undeutlich waren) als vielmehr die Tatsache, daß sie
ein tatsächliches Verbrechen dokumentierten und keine Tricks
irgendwelcher Horrorproduzenten zeigten.
Mord im Internet" na ja, bei Licht besehen
war das besagte Verbrechen natürlich keineswegs im Datennetz
begangen worden, sondern in der ganz gewöhnlichen Welt unter
Sonne und Mond. Die Täter saßen und sitzen, so konnte
man erfahren, bereits seit geraumer Zeit hinter Schloß und
Riegel. Wie um alles in der Welt, so fragt man sich, konnte das
Video, das sie seinerzeit von ihrer Tat gedreht hatten, in die
Hände irgendeines Idioten geraten, der dann Standbilder
anfertigte und nichts besseres zu tun hatte, als diese ins Usenet
zu posten? Liegt dort nicht der eigentliche Skandal? Welcher
hirnlose Mitarbeiter der zuständigen Strafverfolgungs- oder
Justizbehörden, welche Asservatenverwaltung mag wohl ein
solches Beweisstück, das gewiß nicht in die Hände
der Öffentlichkeit gehört, herausgegeben haben?
Aber die Boulevardpresse, bewährte Hüterin von
Anstand und gesundem Empfinden, hatte den eigentlichen Schuldigen
bereits ausgemacht und beim Namen genannt: das Internet.
Jetzt reichts!" und wieder einmal wurde
der Ruf nach staatlicher Regulierung, nach Kontrolle und Zensur
des Datenverkehrs im Netz laut. Staatlich das heißt,
es muß sich hier, in Deutschland, abspielen. Wen
interessierte schon, daß die besagte Newsgroup auf den
meisten deutschen Newsservern ohnehin nicht geführt wird?
Wie üblich wurde auch geflissentlich übersehen,
daß das Internet aus einer Vielzahl von Diensten besteht,
die sich kaum über einen Kamm scheren lassen.
Zugegebenermaßen sind Newsgroups, World Wide Web und
FTP-Server so etwas wie öffentliche Medien wer hier
etwas hineinstellt, macht es prinzipiell dem gesamten
Netzpublikum zugänglich. Etwas völlig anderes sind
jedoch etwa E-Mail und Chat hierbei handelt es sich um
Medien privater Kommunikation, vergleichbar mit Briefpost,
Telefon oder Fax. So verletzt ein Eingriff in den E-Mail-Verkehr
das Postgeheimnis, das in Deutschland durchs Grundgesetz
geschützt ist. Wenn jetzt bei den Diskussionen zu einem
neuen Multimediagesetz wieder einmal das Datennetz und seine
Inhalte" mit Rundfunk verglichen werden (der der
Aufsicht der Bundesländer untersteht), sollte man sich
zumindest die Mühe machen, zwischen den so
grundverschiedenen Diensten im Netz zu unterscheiden.
Abgesehen davon warnen erfahrene Netzbürger"
vor jeder Art von staatlichen Eingriffen in den Datenverkehr. Das
Gerangel um den Communication Decency Act" in den USA,
der die Übertragung unanständiger" Inhalte
über alle Medien der Telekommunikation unter Strafe stellt
und inzwischen bereits von einem District Court für
verfassungswidrig erklärt wurde, zeigt, wohin solche
Versuche führen. Im Protest gegen den Decency
Act" waren sich plötzlich brave Netzbürger und
schwarze Schafe" einig: Beim Kampf für die freie
Rede im Netz standen Online-Anbieter von Pornographie und
Betreiber rassistischer Sites in einer Reihe mit
Universitätsprofessoren und Top-Managern der EDV-Branche.
Unglückliche Allianzen dieser Art schwächen die
Selbstreinigungskräfte" des Datennetzes, und
gerade die könnten es wert sein, gestärkt zu werden.
Wenn ich Ihnen jetzt die erste
monatliche Ausgabe der inside online präsentiere, dann
tue ich es in dem Bewußtsein, daß das Datennetz eine
reiche Fülle an lohnenden Angeboten für Sie
bereithält. Bei der Auswahl dieser Angebote will dieses Heft
Ihnen helfen. Das Internet ist weder eine Mördergrube noch
eine Domäne der Perversen, auch wenn es bisweilen so
dargestellt wird.
Es spiegelt die wirkliche Welt mit ihren ganzen Farben und
Facetten, mit Gut und Böse wider. Und es ist ein aufregendes
Medium, das sich zu erschließen (nicht erschießen)
lohnt.
Das meint jedenfalls Ihr

Peter Schmitz, Chefredakteur