Mimi oder Ungarische Nächte

von Carola Heine

Das Weihnachten von 1990 wollte einfach nicht aufhören. Vollgestopft mit totem Federvieh und versorgt mit neün Socken vertrieb ich mir das Warten damit, vom elterlichen Wohnzimmer aus die Freunde in Düsseldorf anzurufen, um ihnen schöne Festtage zu wünschen. Wieso waren die eigentlich alle zuhause zu erreichen und ich bekam die geballte Überdosis Harmonie zu schlucken?

Beim dritten Telefonat habe ich mich dann verwählt. Oder dachte es zumindest, denn am anderen Ende weinte ein Kind. Walter hatte keine Kinder, genaugenommen hatte Walter gar nichts außer einer bemüht nonchalanten Art.
Also entschuldigte ich mich und legte leicht verlegen wieder auf, denn die Stimme am anderen Ende hatte in einer fremden Sprache geschluchzt und ich war mir irgendwie ziemlich sicher, daß das fremde Kind mich nicht verstanden hatte.

Ich wählte noch einmal die Nummer von Walter, diesmal etwas sorgfältiger - und wieder diese schniefende Person, die jedenfalls nicht Walter war. "Hello, who is speaking?" versuchte ich es auf Englisch und lauschte dem schweren Atem. "Is Mimi here. No eating - is alone."
Das war kein Kind, das war eine Frau. Und sie war verzweifelt. Nach vergeblichem Radebrechen wurde mir klar, dass sie eigentlich gar kein Englisch sprechen konnte und dass sie Hunger hatte. Hunger! Ich murmelte beruhigende Worte ins Telefon und überlegte. "Mimi?" Am anderen Ende kam ein "Jaaaa?" Ein unglaublich tiefes, heiseres Ja. "Are you in Walters' Appartment?" - "Walter appartment jaaa! Mimi eating no!" - "Is Walter in the appartment?" - "Walter holiday go!" Vom Emsland nach Düsseldorf bei Schneetreiben würde ich etwa drei Stunden brauchen, wenn ich großes Glück hatte. Meine Mutter würde mir nie verzeihen, andererseits irgendwann wahrscheinlich doch. "Mimi, you wait. Tonight."
"Tonight!" wiederholte sie mit fester, hoffnungsvoller Stimme und ich legte auf.

Wegzukommen war wider Erwarten gar nicht schwierig, denn ich mußte nur erklären, daß in Düsseldorf irgendwo ein einsames hungriges Mädchen saß, und das an Weihnachten. Und schon war ich unterwegs. Es war ein seltsames Gefühl, die Adresse zu suchen und nicht zu wissen, was mich wohl dort erwartete. Die Wohnung von Walter hatte ich nie gesehen, denn wir kannten uns nicht besonders lange und im Prinzip nur über eine Bekannte - genaugenommen wußte ich nicht einmal, warum ich ausgerechnet Walter frohe Weihnachten hatte wünschen wollen.

Ich klingelte an der Tür und erwartete alles mögliche. Aber nicht, daß ein winziger Wirbelsturm von Frau in einem Ballkleid aus rotem Samt mir spontan um den Hals fallen würde, sobald die Tür aufging! Da stand ich und kam mir so groß und blond und deutsch vor wie noch nie, während dieses kleine Bündel mit dem Gel in den dunklen Locken und den Strass-Ohrringen mir schluchzend am Hals hing und "Dankä dankä" stammelte. Kaum größer als ein Kind war Mimi, die ihr schönstes Kleid angezogen hatte, weil sie nicht wußte, was für eine deutsche Frau da nun kommen würde.

Die Wohnung von Walter war ein Dreckstall. Es sah so aus, als hätte seit Jahren niemand saubergemacht und hundert Generationen verkrusteter Tomatensaftspritzer bestätigten dies in der Küchenzeile. Nur eine Ecke sah sauber aus: Da hatte Mimi ein Bettlaken ausgewaschen und über das Sofa gelegt. Den Rest des Appartments könnte ich zwar sehr wohl beschreiben und mir fehlen auch nicht die Worte, aber ich erspare es den mitlesenden Mägen lieber. Meiner ist schon recht belastbar und drehte sich doch zweimal, als er das Badezimmer sah.

So saß ich dann mit dieser winzigen Fee in dem weiten roten Ballkleid auf dem einzigen sauberen Fleck und drückte ihr als erstes - wir Deutschen sind so praktisch - die mitgebrachte Futtertüte in die Hand. Sie mußte großen Hunger haben, denn sie schlug direkt die Zähnchen in ein Honigbrot und futterte drauflos. Nach ein paar Bissen warf sie den Kopf zurück und lachte ein wildes, rauhes Lachen, das ich noch oft hören sollte in den nächsten Tagen. "Mimi eat! Carola dankä!" Dieses Lachen begann mit einem rauhen Räuspern in ihrer Kehle und gurgelte sich den Weg durch mitreißende kleine und große Gluckser frei bis ins Tageslicht, wo es dann ausgelassen tobte. Mimi war ein verwunschener kleiner Kobold, der mir über die Weihnachtstage zugelaufen war, davon war ich schon nach der ersten heiseren Lachlawine fest überzeugt.

"Wo ist Walter?" Es war eigentlich nicht wichtig, ob ich nun Englisch oder Deutsch zu sprechen versuchte, Mimi verstand es eigentlich mehr durch die Situation, in der sie sich befand und die naturgemäß Fragen aufwarf, als dadurch, daß sie viele Vokabeln konnte. "Walter go holiday Gabriella! Walter many love Gabriella." Genaugenommen half mir das auch nicht weiter, ich wußte jetzt nur, daß Walter wahrscheinlich nicht tot irgendwo an der Autobahn lag und daß Mimi wohl doch nicht die eine oder andere Frau in seinem Leben war. Sondern Gabriella, wer auch immer das sein mochte.

"Mimi, where are you from?" Sie legte den Kopf schief und bot mir Honigbrot an. Reizend, die Situation, aber irgendwie nicht ganz unkompliziert. Ich bezeichnete mich selbst mit teutonischen Handbewegungen als "German, deutsch, tedesca" und sah sie fragend an. Feierlich nickte sie und stand auf, um sich vorzustellen: "Maria Teresia Drotoz - MIMI!" Ich konterte mit einem entschiedenen Fingerzeig auf die Umgebung und demonstrativem "Düsseldorf!" und wurde mit einem freudestrahlenden "Budapest!" belohnt: Da hatte ich eine kleine Ungarin gefunden! Viele Stunden und Honigbrote mit Milch später wußte ich zwar immer noch nicht, was genau geschehen war. Aber daß Walter und ein Freund sich aus dem Ungarn-Urlaub zwei Mädchen mitgebracht hatten und daß der Freund verschwunden war, während Walter mit der anderen Dame urlaubte, soviel wußte ich immerhin. Der Urlaubsflirt von Mimi war ebenfalls mit ziemlicher Gewißheit keinem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen und deshalb verschollen, denn er hatte ihr ganzes Geld und ihren Paß mitgenommen. Mimi hatte schon fünf Tage alleine gewartet und seit zwei Tagen nichts mehr zu essen gehabt.

Was nun? Mimi, vergnügt und sattgefuttert, thronte in dem bauschigen Samtkleid auf dem Sofa - sie hatte instinktiv begriffen, daß ich sie nicht einfach so zurücklassen würde, das war in meinem Schaltplan schlicht nicht vorgesehen.
Zunächst überlegte ich, Putzmittel und Lappen zu besorgen und Mimi zu helfen, die Wohnung in einen erträglichen Zustand zu versetzen. Dann würde ich sie mit Essen versorgen und irgendwann mußte Walter ja zurückkommen.
Wir haben es versucht und mühsam in einigen Ecken den Dreck entfernt. Aber ich mußte mich übergeben (doch, das passierte einfach), als ich die Badewanne genauer betrachtete und daraufhin habe ich Mimi zu verstehen gegeben, sie solle packen und mitkommen.

Was sie wohl von mir gedacht hat? Sie einfach aus Walters' Wohnung mitnehmen, aber vorher noch putzen, ausgerechnet.... Vielleicht hat sie gar nichts gedacht oder nur, daß die Deutschen ja bekanntermaßen sowieso spinnen in Bezug auf Hygiene. Ihr Gepäck bestand aus einer einzigen Tasche, wie hatte das Ballkleid nur auch noch dort hineingepaßt? Oder war sie darin gekommen? Langsam hielt ich alles für möglich, auch, daß dieses fröhliche heisere kleine Wesen einfach mit dem Wind hergeflogen war. Wie alt sie wohl sein mochte, 30 oder 35 Jahre alt?

Wie ich am nächsten Tag erfuhr, war sie gerade 18 geworden. Aber an dem Abend waren wir beide zu erschöpft, um weiter gegen die Verständigungsschwierigkeiten zu kämpfen. Ich packte sie einfach in die Badewanne und bezog das Schlafsofa. Als sich herausstellte, daß Mimi's Gepäck nichts weiter als eine Sammlung von Unterwäsche, Strapsen und Mini-Kleidern sowie Mini-Minikleidern enthielt, fand sich auch noch ein T-Shirt, in dem sie bis zu den Knien versank. "Gutt Nacht" murmelte sie und schlief ein, zusammengerollt und doch irgendwie hemmunglos.

Sie schlief tief und fest, als ich mich frühmorgens auf den Weg in die nächste Buchhandlung und zum Bäcker machte. Aber als ich mit frischen Croissants und Wörterbüchern zurückkam, wirbelte sie bereits mit dem Staubsauger durch die Wohnung - ich denke auch jetzt noch, daß sie wegen der vergeblichen Putzerei in Walters' Wohnung gedacht haben muß, ich hätte sicherlich einen Putzfimmel und ein höflicher Gast müsse sich halt anpassen.

Wir frühstückten im Bett und ich gab ihr das ungarisch-deutsche Wörterbuch und zeigte ihr, dass ich ein deutsch-ungarisches hatte. Und dann machten wir uns an die Arbeit herauszufinden, wer wir eigentlich waren. Mimi erklärte mit Hilfe ihres Wörterbuchs, daß sie in Budapest wohnte und arbeitete und daß sie ein Ticket für den 9. Januar hatte, um zurückzufliegen. Ein Sparpreis-Ticket, das man nicht umtauschen könne. Ich erklärte, daß ich bald wieder arbeiten müßte und eigentlich immer noch ganz gerne wüßte, wie sie nun eigentlich nach Deutschland gekommen war.

Als ein Nachbar klingelte, erzählte Mimi, wer sie besuchen würde, müsse auf dem Dudelsack spielen und es dauerte geschlagene fünf Minuten, bis ich herausgefunden hatte, daß sie damit meinte, ihre Freunde würden vor der Haustür hupen, statt anzuklingeln.
Daher hielt ich es auch für ein weiteres elementares Mißverständnis, als Mimi auf die Frage nach ihrem Beruf antwortete, sie "tanze nackt in einem Käfig". Aber es war keins. Der heisere kettenrauchende kleine Engel war eine Striptease-Tänzerin und Prostituierte. Obwohl sie aussah, als sei sie weit über 30, war sie doch gerade erst 18 geworden und hatte eine 4-jährige Tochter und einen 5-jährigen Sohn, die bei ihrer Mutter lebten. "My baby" sagte sie und weinte, um gleich darauf wieder lauthals und lange zu lachen, weil ich wohl so geschockt aussah.

Sie hatte sich in Walters' Freund Antonio verliebt und die beiden Männer hatten natürlich nichts dagegen gehabt, sich eine Stripperin zum Nulltarif mit nach Hause zu nehmen für die Feiertage. Und da war sie nun und konnte erst am 9. Januar zurück nach Budapest, denn das Geld für ein neuess Ticket hätte ich ihr damals nicht geben können. Antonio war verschwunden, hatte ihr ganzes Geld mitgenommen und das aktuellste Problem war wohl die Garderobe, die sie dabei hatte, zumindest für mich, denn einsperren wollte ich sie schließlich auch nicht.

Diese Frau besaß keine einzige Unterhose und als wir uns in dem unauffälligsten Minikleid aufmachten, Klamotten zu kaufen, hielt sie mitten in der Fußgängerzone an, um sich den Saum unters Kinn zu klemmen und über dem kleinen Hinterteil die Strapse zurechtzuziehen. Ich beförderte sie schleunigst in das nächste Kindermodengeschäft und stopfte sie in eine Jeans, denn sie war zu klein für Erwachsenengrössen. Abgesehen davon, daß ich eigentlich noch ganz gerne ein paar Jahre in dieser Stadt weiterwohnen wollte, war es auch viel zu kalt. Ich hatte ihr auch ziemlich drastisch klargemacht, daß sie in ihrem Beruf urlauben müsse, wenn sie bei mir übernachten wolle und sie hatte das auch eingesehen.

Da saß sie dann, in Kinderjeans und einem geringelten Pullover, und bis auf das verlebte Gesicht sah sie so verspielt und süß aus wie ein Schulkind. Ein Kind, das mit 13 Jahren von einem Soldaten vergewaltigt und schwanger geworden war und nun Nacht für Nacht in der Diskothek "Rendeszvous" in Budapest nur mit Ketten bekleidet in einem Käfig tanzte.

Die zwei Wochen mit Mimi waren atemberaubend. Wir gingen in eine Pizzeria und es stellte sich heraus, daß die Kellner kurz zuvor Urlaub in Budapest gemacht hatten und Mimi wiedererkannten, die wohl aufgrund ihrer unverwechselbaren Lache und temperamentvollen Art als eine Art Geheimtip galt. Wir gingen in die Altstadt und es stellte sich heraus, daß Mimi auch in den harmlosesten Klamotten zahlende Männer angezogen hätte wie eine Straßenlaterne die Motten - wäre da nicht dieses große deutsche Mädchen gewesen, das so gar nicht ins Bild paßte.

Sie putzte und staubsaugte und lachte und tanzte und tobte. Dann schaffte sie es, einen ehemaligen Liebhaber in München anzurufen, als ich nicht da war, und abends klingelte das Telefon - ein großkotziger Jung-Yuppie teilte mir mit, er und sein Kumpel säßen im Porsche und wären unterwegs nach Düsseldorf, um "uns" zu besuchen. Ich teilte ihnen freundlich die Adresse eines grösseren Hotels in der Gegend mit und überlegte, ob es nicht spätestens jetzt an der Zeit wäre, sich von Mimi zu trennen. Aber aus ihrer Sicht war es ja völlig in Ordnung, einen netten jungen Mann anzurufen, in den sie verliebt war. Ob das denn aus meiner Sicht anders wäre?

Ach Mimi, verglichen mit Dir kam ich vom Planeten Zork. Aber wie sollte ich das erklären, ohne ihr wehzutun? Lieber ließ ich die beiden Ekelbrocken auf einen Kaffee herein, um die neuen Spielregeln zu erklären: Mimi kann machen, was sie will, aber wenn sie morgen abend nicht wieder da ist, braucht sie gar nicht mehr zu kommen. Und NEIN, ich gehöre nicht zum Service. Die beiden Schnösel waren verblüfft, aber marschierten brav ins Hotel. Die süße Mimi bebte wie vor der ersten Verabredung, denn für sie war es ein echter Liebesbeweis, daß der Kotztyp extra von München hergefahren war. Sie zog das Ballkleid an und ließ sich von mir ins Hotel bringen, strahlend. Und mir ging es schlecht.

Am nächsten Morgen ging ich zum Frühstück in das Hotel, um Mimi abzuholen. In unserer ungarisch-englischen Geheimsprache konnten wir uns inzwischen fließend verständigen und sie erzählte mir, es sei so schön gewesen. Er sei so lieb gewesen und habe sie nur im Arm halten wollen, um bei ihr zu sein. Gar kein Sex. Er wollte nur Mimi. Am Nebentisch sass "er" und unterhielt sich mit seinem ekelhaften Gegenpart über Mimi's einschlägige Qualitäten. Die Fahrt von München nach Düsseldorf habe sich echt gelohnt, meinte er. Das hat mir so weh für Mimi getan, daß sie sich ihre wunderbaren Momente selbst ausdenken mußte. Nach der ganzen langen Zeit kann ich immer noch nicht beschreiben, wie das geschmerzt hat. Nicht die Lüge, sondern der Wunsch dahinter, einfach nur als Mimi liebgehabt zu werden.

Als sie wieder abgeflogen ist, hatte sie sogar Unterwäsche an und mir ernsthaft versichert, sie würde sich jetzt auch andere Kleider kaufen, denn der subtile Sex von einem netten Kostüm hätte was Edleres als der von Samtminikleidern, das müsse theoretisch noblere Kundschaft und ergo mehr Einnahmen bringen.... Außerdem hatte sie das riesige geringelte T-Shirt und meinen letzten Hundertmarkschein geschenkt bekommen und ich hatte dafür ein paar Brocken Ungarisch gelernt. Sie weinte und lachte zugleich beim Abschied und lernte auf dem Weg ins Flugzeug bereits den ersten unternehmungslustigen Mann kennen.

Später kam ein Brief aus Budapest, voller leidenschaftlicher Kugelschreiberkleckse und ungarischer Wörter, mit einem Bild von Mimi in meinem T-Shirt mit Walter in ihrem Bett. Dann lange nichts. Und anderthalb Jahre später das vertraute heisere Lachen auf meinem Anrufbeantworter "Hallo, hier ist die Mimi.... ich bin in Österreich, ich bin jetzt verheiratet, ich kann doitsch sprächen... Es geht mir gut und dankä, immer dankä..."

Sie hat auch ihre Telefonnummer angegeben. Aber ich habe niemals zurückgerufen. Wenn sie ein neues Leben angefangen hat, kann sie niemanden brauchen, der sie als Prostituierte kannte. Und wenn sie kein neues Leben angefangen hat.... nun, auch ich habe einiges gelernt damals. Darüber, wie gefährlich das "Milieu" ist und daß ich damit nichts zu tun haben will.

Carola Heine