Gezeiten


Rotes Sonnenlicht tastet nach den Sandkörnern, die meine Füße umspielen und sich auf meinen Zehen verteilt haben. Eine neue Welle des salzigen Wassers bringt neue Sandkörner , die sich wieder auf meinen Zehen niederlassen und nach denen wieder das rote Sonnenlicht tastet. Das Wasser ist angenehm warm, läßt noch etwas von der Hitze des Tages verspüren. Salziger Wind zerzaust mein Haar und meine Augen brennen nicht nur vom Starren in das letzte Licht des Tages. Salzgeschwängerte Luft dringt in meine Lungen und vor meinem geistigen Auge steht das vielzuoft zitierte Bild von Hemingways altem Mann. Ich betrachet die Sandkörner genauer und frage mich, ob sie voneinander wissen, verbunden durch das uralte Meer. Mein Zeigefinger nimmt ein paar auf und ich halte sie dicht vor meine Augen. Bunt sind sie. Manche sind rund, manche haben Ecken, als seien sie frisch aus einem Fels geschlagen worden. Einige haben kleine, dunkle Tupfen, andere haben Streifen, keines sieht aber wie das andere aus. Eine neue Welle umsp|lt meine Füße und gräbt mich etwas weiter in den Sand ein, so, als ob er mich nie mehr freigen möchte. Merkwürdig, je länger ich die Sandkörner auf meinem Finger betrachte, umso mehr drängt sich in mir das Bild von Menschen auf; Menschen, die ich kenne, Menschen, die ich einmal kannte, Menschen, die nur in meiner Vorstellung existieren. Ob Menschen auch so ein uraltes Meer zwischen sich haben, das sie trägt, das sie voneinander wissen läßt? Lange denke ich über diese Frage nach, starre in die untergehende Sonne und finde keine befriedigende Antwort. Traurig schnippe ich die Sandkörner ins Wasser und wende mich zum gehen. Die Sonne ist untergegangen und der Mond steht tief am Himmelmit seinem verträumten Gesicht. Ob er die Antworten auf meine Fragen kennt? Er läßt ein paar Sandkörner aufblitzen, aber schon die nächste Welle hat sie fortgespült. Der Strand, er sieht noch immer gleich aus, nur seine Körner sind verschieden.


von Andreas Bergmann